Mittwoch, 30. Oktober 2019

The Making of „Am Abgrund der Unendlichkeit“ – Teil 3: Das Pronomen-Problem mit den Floryll

Morgen, am 31.10.2019, erscheint mein neustes Romanwerk, der Science-Fiction „Am Abgrund der Unendlichkeit“, und zu diesem Anlass möchte ich ein wenig hinter die Kulissen des Projekts blicken. Heute geht es um ein ganz spezielles grammatikalisches Problem, vor dem ich während des Schreibens plötzlich stand.

In der Regel, so kommt es mir vor, ist das Geschlecht von Angehörigen nichtmenschlicher Spezies nichts, worüber sich Science-Fiction-Autoren viele Gedanken machen. 99% aller Aliens scheinen entweder Männlein oder Weiblein zu sein. Wenn man es ein wenig exotischer haben möchte, hält man es wie bei den Andorianern aus „Star Trek“ und erfindet halt zwei Arten Männlein und Weiblein – was aber auch nichts an einer grundsätzlich klaren Geschlechtsidentität ändert. Oder der Roman ist aus der Perspektive von ignoranten Menschen geschrieben, die auch dem letzten Felsklumpen noch ein Geschlecht zuordnen, je nach äußerem Anschein. Ich habe das bei „Am Abgrund der Unendlichkeit“ zugegebenermaßen anfangs auch so gehalten – doch dann ließ ich mich auf ein gewagtes Experiment ein.

Denn bei meiner Recherche zu der pflanzlichen Spezies der Floryll wurde mir eines klar: Anders als bei Menschen und Tieren ist im Pflanzenreich Doppelgeschlechtlichkeit oder auch Hermaphroditismus weit verbreitet. Gerade Blütenpflanzen weisen sowohl männliche Staubblätter als auch weibliche Fruchtblätter auf. Daher schien es mir nur konsequent, die Floryll, die einen sehr prominenten Blütenkopf haben, nicht in Männlein und Weiblein zu unterteilen, sondern als Zwitter anzulegen. Nun könnte man der grammatikalischen Einfachheit halber sagen, dass sich die Floryll an die kulturelle Norm im Domenaion angepasst hätten und sich Individuen zumindest dem Anschein nach für ein Geschlecht entscheiden würden. Das hätte mir vieles leichter gemacht, denn ich hätte schlicht mit (scheinbar) männlichen und weiblichen Floryll operieren können. Doch diese „leichte“ Lösung wäre mir wie eine Lüge aus Faulheit vorgekommen.


Es gibt gewiss Floryll, die sich von der Art ihres Charakters her eher männlich oder eher weiblich verhalten – so wie man eben Männlichkeit und Weiblichkeit dem Klischee nach versteht. Sie bleiben allerdings biologisch dennoch immer Zwitter und kämen auch gar nicht auf die Idee, sich zu verstellen. Die Floryll sind eine Macht im Domenaion. Sie sind eins der Gründungsvölker. Sie sind genauso stolz auf ihr Wesen wie jeder Mensch, jeder Atherier oder jeder Barakkaraner. Und weil diese Spezies aus Zweigeschlechtlichen nun schon seit mehr als 1000 Jahren die Geschicke des Domenaions mitgestaltet, war es geradezu zwingend, dass sich die Gemeinsprache an diesen Umstand angepasst hat. Und das jeder völlig unbefangen und ohne darüber nachzudenken diese Zweigeschlechtlichkeit im Umgang mit Floryll hinnimmt und formuliert.

Nun kennt das Deutsche allerdings keine Vokabeln für Zweigeschlechtliche. Es heißt „der Mann“ und „die Frau“. Aber wie lautet der Artikel für ein/e Mann-Frau? Für einen Zwitter? Es gibt einige Versuche in der Realität, nichtbinäre Menschen, also Menschen, die sich weder männlich noch weiblich definieren, zu adressieren. Statt „er“ oder „sie“ sagt man z.B. „xier“ oder „ser“ oder „ersie“, im Englischen auch gern „them“. Leider erschöpft sich das Vokabular meist in diesen einzelnen Pronomen und bestimmten Artikeln. Für meine Zwecke war das viel zu wenig, wie ich beim Schreiben bemerkte. Und so begann ich, einen kompletten Satz Vokabeln nur für die zweigeschlechtlichen Floryll zu entwerfen und im Roman zu verwenden.

Meine Prämisse dabei war folgende: Wenn möglich sollten die Vokabeln für die zwei Geschlechter verschmolzen werden und in der Buchstabenmenge des neuen Worts noch enthalten sein. So machte ich aus „er“ und „sie“ „sier“ (gelesen nicht „sihr“, sondern „si-er“). Aus „der“ und „die“ wurde „dier“. „Sein“ und „ihr“ mischte sich zu „seihr“. An diesem letzten Beispiel merkt man schon, dass ich meine eigene Regel gelegentlich gebrochen habe. Wenn ein Wort zu lang wurde oder zu schwer lesbar, habe ich auch mal einzelne Buchstaben wegfallen lassen, bei „seihr“ etwa das „n“. Im Fall von „seinhr“ wäre auch das maskuline Geschlecht zu deutlich herauszuhören gewesen. Aus diesem letzten Grund habe ich auch Buchstaben umsortiert. So wird aus „ein“ und „eine“ nicht etwa „eine“ (obwohl da alle Buchstaben enthalten wären), sondern „enie“.

So schuf ich bestimmte und unbestimmte Artikel, Personalpronomen, Possesivpronomen und -artikel, Relativpronomen, Demonstrativpronomen, die ganze Palette. Eine besondere Herausforderung war dabei der Umstand, dass Possesivpronomen und -artikel für dreierlei Gesprächssituationen entwickelt werden mussten.
  1. Wenn sich ein Zwitter auf ein eingeschlechtliches Wesen bezieht („Die Frau war seihre Leibwächterin.“ bzw. „Der Mann war seihr Leibwächter.“).
  2. Wenn sich ein eingeschlechtliches Wesen auf einen Zwitter bezieht („Dier Floryll war senie [Mann] bzw. ehrie [Frau] Leibwächteris.“).
  3. Wenn sich ein Zwitter auf einen Zwitter bezieht („Dier Floryll war seihre Leibwächteris.“).
Dabei ist sich das „seihre“ im ersten Beispiel eine Mischung aus „seine / ihre“, im dritten Beispiel dagegen aus „sein / ihr / seine / ihre“. Im Nominativ sind die Vokabeln noch identisch; ab dem Genitiv beginnen sie sich zu unterscheiden.

Eine weitere sprachliche Neuentwicklung mag in den Beispielen bereits aufgefallen sein. Ich habe auch eine neue Endung für doppelgeschlechtliche Personen eingeführt: „-is“. Enie Floryll ist eben keine Pilotin und kein Pilot, sondern enie Pilotis. Im Plural sind es natürlich auch wieder Piloten, weil Piloten ein geschlechtsneutrales Wort ist. Die Endung wurde dabei nach längerem Knobeln gewählt, weil sie zum einen kaum ein Geschlecht suggeriert (anders als etwa Pilot-a oder Pilot-on). Zum anderen kann „is“ als Abkürzung für „intersexuell“, was nichts anderes als zweigeschlechtlich meint.

Eine komplette Liste der von mir neu entwickelten Worte findet ihr in diesem PDF.

Ist der Roman denn bei Sätzen wie „Dier Floryll war seihre Leibwächteris.“ überhaupt lesbar oder werde ich alle paar Zeilen über diese Pflanzenabkömmlinge und ihren Spezialwortschatz stolpern? Das mag sich mancher jetzt fragen, und das sicher nicht ganz zu unrecht. Wir leben eben nicht im Domenaion; zweigeschlechtliche Wesen (bei uns: intersexuelle Menschen) gehören nicht zum Alltag und unsere Sprache hat sie entsprechend nicht integriert, auch wenn in der letzten Zeit erste zaghafte Versuche auch außerhalb der Community selbst unternommen werden. Ich weiß nicht, wie sehr meine Entscheidung, die Floryll konsequent pflanzlich (d.h. als Zwitter) zu entwickeln, hier und da das Lesevergnügen stören wird. Ich hoffe, dass sich schnell eine Gewöhnung einstellen wird. Rückmeldungen sind hier gern gesehen.

Morgen geht es weiter mit: Teil 4: Schurkische Helden

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